Schließe nicht von der Handlung auf die Haltung!

Mai 6, 2022

Ihr Partner vergisst den Jahrestag, die Kollegin gibt uns nur einen Teil notwendiger Informationen weiter, Ihre Schwester trägt bei Ihrer 50. Geburtstagsfeier ein knallrotes Kleid, ein befreundetes kinderloses Paar schafft sich einen Hund an. Vielleicht schlussfolgern Sie daraus, dass Sie Ihrem Partner nicht mehr wichtig sind, weil er ja sonst den Jahrestag nicht vergessen würde. Und daraus entstehen möglicherweise weitere Schlussfolgerungen, wie zum Beispiel, dass er Sie nicht mehr richtig liebt – sonst hätte er ja daran gedacht. Aus dem Verhalten der Kollegin leiten Sie ab, dass sie Ihnen bewusst nur einen Teil der Informationen gegeben hat, um Sie auflaufen zu lassen. Oder dass Ihre Schwester dieses Kleid nur deshalb trägt, um sich in den Mittelpunkt zu rücken und Ihnen den Rang abzulaufen, weil das schließlich schon immer so war, und Ihre Schwester damit zeigen möchte, dass sie etwas Besseres ist. Ihre Freunde haben sich bestimmt nur deshalb einen Hund angeschafft, weil dieser Hund ihr Kindersatz wird. Diese Gedanken sind verletzend.  

Sicher können wir alle nachvollziehen, dass manche Ereignisse enttäuschend sind. Doch unsere eigenen Annahmen, unsere Gedanken und nicht allein das Verhalten der anderen tun uns weh. Mit unseren Schlussfolgerungen meinen wir manchmal, dass wir besonders klug sind, und gehen davon aus, hinter das Verhalten der anderen blicken zu können und damit entlarvt zu haben, was sie mit ihrem Verhalten ausdrücken möchten.  

Doch warum tun wir das? Wir interpretieren und schlussfolgern, weil wir die Dinge, Aussagen oder eine Situation verstehen wollen. Dabei ist es wichtig, dass wir begreifen, dass wir diese Dinge als subjektiv plausibel ansehen und es nicht die Wahrheit abbilden muss. Woher kommt der Begriff „Interpretation“? Er leitet sich vom lateinischen Wort „interpretari“ ab und bedeutet: den Mittler machen, auslegen, deuten, verstehen. Schlussfolgern bedeutet, dass wir eine Erklärung für etwas haben – doch jede Erklärung ist nur eine Hypothese und damit nicht objektiv. Unsere Schlussfolgerungen sind oft wie Pfeile, die wir auf andere abschießen. Dabei verletzen wir uns oft selbst, weil die entstehenden Gefühle häufig schmerzhaft sind.  

Missverständnisse sind meistens die Auslöser von Konflikten. Jeder von uns lebt, denkt und handelt aus seiner eigenen Gefühls-, Erfahrungs- und Gedankenwelt heraus. Vielleicht hat Ihr Partner gerade in der Arbeit einen Konflikt, an dem er knabbern muss, und blendet daher alles andere aus. So hätte es also nichts damit zu tun, dass er Sie nicht mehr liebt. Die Kollegin dachte vielleicht, dass sie Ihnen die anderen Informationen bereits gegeben hat. Ihre Schwester hatte an diesem Tag einfach nur Lust auf Farbe, oder es ist das einzige Kleid, das ihr nach der Schwangerschaft noch passt. Es liegt an uns, wie wir Situationen, Aussagen oder das Verhalten der anderen auffassen. Für das befreundete Paar könnten wir uns einfach nur mitfreuen, dass Sie sich einen Hund anschaffen.  

Wenn wir ausgeglichen und glücklich sind, betrachten wir die gleichen Situationen meist wohlwollender und reagieren empathischer. Wer unausgeglichen ist, der neigt dazu, die Situationen eher negativ zu bewerten.  

Aussagen, Verhalten anderer und Situationen haben natürlich eine Wirkung auf uns. Doch wir können selbst entscheiden, wie wir damit umgehen. Die Situation können wir nicht ändern, doch für unsere eigene Haltung, unsere Gedanken, Schlussfolgerungen und Reaktionen können wir Verantwortung übernehmen. Das Wichtigste dabei ist, dass wir uns unserer Schlussfolgerungen bewusst sind und sie nicht einfach als Wahrheit hinnehmen.  

Wie verhalten Sie sich, wenn Sie davon ausgehen, dass Ihr Partner den Jahrestag vergessen hat, weil er Sie nicht mehr liebt? Und wie würden Sie sich verhalten, wenn Sie davon ausgehen, dass er gerade richtig Stress haben muss, wenn er diesen Tag vergessen hat? Wie würden Sie sich verhalten, wenn Sie Ihrer Kollegin nicht unterstellen, dass sie die Informationen bewusst zurückgehalten hat? Unsere Schlussfolgerungen steuern unser Verhalten und unsere Reaktionen.  

Wir werden immer Schlussfolgerungen tätigen, doch ist es gut, innezuhalten und den eigenen Gedanken und Gefühlen zu lauschen, um sich selbst zu sortieren und Abstand zu gewinnen. Das sagt auch viel über uns selbst aus. Wer im eigenen Film der Interpretationen gefangen ist, tut sich schwer, darin seine eigenen Bedürfnisse zu erkennen.  

Häufig ist es gut, durch Nachfragen herauszufinden, wie es zu dieser Situation kam und was der andere damit ausdrücken wollte, und die eigenen Bedürfnisse und Gefühle mitzuteilen. Allerdings sollten wir auch nicht jede Situation zerpflücken, sondern mehr wahrnehmen, statt zu schlussfolgern. Wenn wir alles klären wollen, wird es für die anderen Menschen und uns selbst anstrengend. Wenn eine Situation uns emotional beschäftigt, steht Klärung an. In anderen Situationen könnten wir uns auch fragen, warum wir dies überhaupt bewerten. Geht es Sie überhaupt etwas an, warum sich das befreundete Paar einen Hund anschafft?  

Vielen Situationen könnten wir auch mit Humor begegnen, anstatt harte Urteile zu formulieren.  

Das Wichtigste dabei ist: Es beginnt bei unseren Gedanken, Schlussfolgerungen und möglicherweise auch entstehenden Gedankenschleifen. Das steuert unser Verhalten. Wenn wir darin gefangen sind, werden wir weiteres Verhalten der anderen und darauffolgende Situationen als Bestätigung unserer Schlussfolgerung sehen. Damit werden wir weder uns noch anderen gerecht – und schon gar nicht einem guten Miteinander.

Viele Grüße


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